Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31 Juli 1982 / Nummer 174
Joachim Fest
Theodor Mommsen:
Zwei Wege zur Geschichte - Eine biografische Skizze
Niemand entkommt seiner Zeit. Wenn es richtig ist, daß die größten
Männer mit ihrem Jahrhundert durch eine Schwachheit zusammenhängen,
so gilt das für die Stärke auch. Zu der von Irritationen nicht
freien Anziehungskraft, die das 19. Jahrhundert inzwischen ausübt,
gehört, was der Gegenwart verlorenging: sein ins Große gerichteter
Wille, die Energie ins Monumentale, der Hang zu gewaltigen Projekten und
unerhörten Vorhaben. Balzac plante die „Comedie humaine" auf mehr
als zweihundert Bände, Ranke den aus genauester Detailforschung sich
erhebenden Riesenbau einer Weltgeschichte, Richard Wagner das „Gesamtkunstwerk":
alles Unmaß, alles Parforce und über Menschenkraft hinaus. Und
wie im Kulturellen verhält es sich im Materiellen mit der expansiven
Tüchtigkeit der Epoche, ihrem Ehrgeiz nach neuen Entdeckungen und
immer weiteren Räumen.
Vieles blieb, so über jede Proportion hinaus erdacht und gewollt,
im Ansatz stecken und nur halb vollendet: Die Bibliographie Theodor Mommsens
umfaßt mehr als fünfzehnhundert Titel, darunter Werke wie „Das
römische Staatsrecht" oder „Das römische Strafrecht", die in
der gesamten historiographischen Forschung nicht ihresgleichen haben; und
in der Literatur der zweiten Jahrhunderthälfte gibt es kaum etwas,
das in seinem sprachlichen Rang, der plastischen Vergegenwärtigungskraft
sowie seiner konzeptionellen Weite und Geschlossenheit, mit einem Wort:
dem, was man großen Stil nennt, der „Römischen Geschichte"
an die Seite zu stellen wäre. Und doch kann man sagen, daß die
Wissenschaftsgeschichte kein Lebenswerk verzeichnet, das so unfertig und,
bei aller Tendenz zum Kolossalischen, so bruchstückhaft geblieben
ist wie dasjenige Mommsens.
Nur seine kategorische Persönlichkeit, die Überlegenheit
seines Interesses sowie seine ubiquitären Kenntnisse haben diesen
Sachverhalt verdeckt. Zu fragen wäre, um welchen Preis.
Die Römische Geschichte
Mit ihm ging ein enzyklopädisches Zeitalter zu Ende. Schon als
junger Rechtshistoriker betreibt er zugleich ein ausgedehntes philologisches
Studium, bildet zusammen mit Theodor Storm und seinem Bruder Tycho einen
Dichterzirkel, der ein „Liederbuch der Freunde" (1843) publiziert, übersetzt
Shakespeare und Byron, Carducci und Victor Hugo. Darüber hinaus widmet
er sich der Geschichte, doch. betrachtet er sie als Ergänzungswissenschaft
zum Studium des alten Rechts und der Philologie. In ihm präsentiert
sich die Altertumswissenschaft, wie sie zu jener Zeit ohne jede spezialisierende
Bezeichnung hieß, noch einmal als Einheit, als umfassendes, alle
Lebensbereiche von der Sprache bis zum Recht, von der Literatur bis zur
Wirtschaft einschließendes Ganzes; mit ihm und nicht zuletzt durch
ihn bricht sie aber auch auseinander.
Man ist mit diesem Hinweis fast schon im Zentrum des Mommsenschen Lebensproblems.
Die Vielseitigkeit seiner Interessen und Begabungen, seine Strenge im Detail
und seine Fähigkeit zu weitestem Überblick, seine Forscherpassion
und seine darstellerische Kraft: mit alledem war er zum Geschichtsschreiber
wie geschaffen. Und doch blieb die „Römische Geschichte", die ihn
weltberühmt machte, nicht nur sein einziges historiographisches Werk
im strengeren Sinn, sondern auch ein Torso.
Man weiß von den Lebenszufällen, denen das Werk die Entstehung
verdankt. In einem Brief an Gustav Freytag hat Mommsen berichtet, wie er
im Jahre 1849, als junger Leipziger Dozent, der bis dahin in Italien alte
Inschriften registriert und an einem Rendsburger Lokalblatt als Journalist
gearbeitet hatte, einen Vortrag über die Gracchen hielt. Unter den
Zuhörern befanden sich die beiden Inhaber der Weidmannschen Verlagsbuchhandlung,
Karl Reimer und Salomon Hirzel, die ihn kurz darauf mit der Frage aulsuchten,
ob er bereit sei, für eine Edition populärer, aber anspruchsvoller
historischer Darstellungen eine „Römische Geschichte" zu schreiben.
Mommsen sagte zu, aber fraglich ist, ob das Vorhaben je zustande gekommen
wäre, wenn er nicht kurze Zeit später den Universitätsdienst
hätte quittieren müssen, weil er an den Leipziger Unruhen vom
Mai 1849 führend beteiligt gewesen war. Otto Jahn, auf den die Berufung
zurückging, hatte dem Freund gleich anfangs den Ratschlag gegeben,
„für den deutschen Salat mehr Öl als Essig" aufzubringen, aber
Mommsens leidenschaftliches politisches Temperament war für die Besonnenheit,
wie sie ihm da nahegelegt wurde, nicht gemacht. Bald sah er sich mit seinem
jähen, im Grunde einzelgängerischen Liberalismus zwischen alle
Stühle geraten. Die letzten Monate in Leipzig und die zwei anschließenden
Jahre in Zürich gaben ihm die Muße, sich der „Römischen
Geschichte" zu widmen und die Arbeit daran in wesentlichen Partien voranzutreiben.
Diese äußeren Umstände waren aber gewiß nicht
entscheidend für den Entschluß, das Buch zu schreiben; sie begünstigten
ihn nur. Ein großes Werk bedarf der ebenso großen Herausforderung,
die ästhetischer, politischer oder wissenschaftlicher Natur sein kann.
Im Fall der „Römischen Geschichte" treffen, wie der genauere Blick
lehrt, alle drei Beweggründe zu.
Die Darstellung des Altertums war um die Jahrhundertmitte vor allem
vom Werk Barthold Georg Niebuhrs bestimmt, der die ersten Ansätze
zur Überwindung der ästhetischen Betrachtungsweise der Antike
geleistet hatte. Die eigene Position im Widerspruch gegen das herrschende
Kultbild jener Epoche formulierend, war ihm und einigen anderen aufgegangen,
daß die Alten nicht jene feierlich stimmenden Statisten des Wahren,
Guten und Schönen waren, zu denen die eigentlich deutsche Renaissance
des 18. Jahrhunderts sie stilisiert hatte, und daß beispielsweise
„die Athener von Gersten und Weizen lebten, nicht etwa von Poesie und Philosophie".
Von tiefem Soupcon gegen die Tugend- und Heldenbilder des klassischen Altertums
erfüllt, ausgerüstet mit der Fähigkeit zu durchdringender
Kritik sowie dem Sinn für die politische und menschliche Realität,
setzten sie der von Winckelmann geprägten Idealvorstellung der alten
Welt eine nüchternere Auffassung entgegen, Empirie gegen Mythos, Wissenschaft
gegen wirklichkeitsentrückte Poesie.
Aber diese Umarbeitung einer ebenso majestätischen wie populären
Legende war in vielfacher Hinsicht in den Anlängen steckengeblieben.
Niebuhrs kritischer Vorsatz, „abgerissene und ärmliche Nachrichten
mit Sorgfalt und Anstrengung ... zu ergründen, zu verbinden und zu
beleben", hatte sich noch zu sehr durchs Gestrüpp falscher oder apokrypher
Überlieferungen kämpfen müssen und war deshalb auch über
die frühe Periode der römischen Geschichte, die Zeit bis zum
Ersten Punischen Krieg, nicht hinausgekommen. Schwerer wog, daß ihm
die wissenschaftlich zureichende Kenntnis des Rechts fehlte, das, unverfälschbar
wie es seiner Natur nach war, der Auffassung Mommsens zufolge weitaus verläßlichere
Auskunft bot als alle anderen Quellen; denn das Recht setzte die Institutionen,
regelte die öffentlichen wie die privaten Angelegenheiten, es war
der reinste, konzentrierteste Ausdruck jenes vergangenen Lebens, dessen
Vergegenwärtigung die Aufgabe des Historikers war.
Hinzu kam, daß Niebuhrs Werk in einem umständlichen, gespreizten
Stil verfaßt war, durchwuchert vom Dikkicht gelehrter Nachdenklichkeiten,
ein „Labyrinth von Seyn und Nicht-Seyn", wie Goethe schrieb, „von tausend
Gegensätzen und Widersprüchen". Nicht nur die eigene Ausdrucksbegabung,
die Mommsen während seiner journalistischen Tätigkeit mit rasch
wachsender Freiheit erprobt hatte, sondern auch das Vorbild Thomas Babington
Macaulays offenbarten ihm, daß dem unbefangenen Zugriff, der die
Wissenschaft mit sprachlicher und dramaturgischer Meisterschaft verband,
ganz neue Wege historischer Darstellung offenstanden. Mommsen hat denn
auch wiederholt geäußert, daß der Geschichtsschreiber
mehr vom Künstler als vom Gelehrten haben müsse; daß er
„nicht in möglichster Vollständigkeit das Tagebuch der Welt wieder
herzustellen" habe, sondern das Gewesene durch jene Phantasie vergegenwärtigen
müsse, „welche wie aller Poesie so auch aller Historie Mutter ist".
Dieser Kunstgedanke erfüllt die „Römische Geschichte" im
Einzelnen wie im Ganzen, und ihr Erfolg hat ebenso damit zu tun wie die
prinzipielle Kritik, auf die sie seit ihrem Erscheinen immer wieder gestoßen
ist. Die Fähigkeit, das Geschehen im Vordergrund auf große Zusammenhänge
zu beziehen, der glanzvolle Satz- und Periodenbau samt den rhetorischen
Figuren von Wiederholung, Wortspiel, Zitat oder sentenzhafter Verdichtung,
der spannungssteigernde Einsatz andeutender Vorgriffe oder retardierender
Einschübe, der Reichtum an Bildern und glücklichen Metaphern
oder die Kunst der Charakterisierung, die von Hannibal wie von Scipio Africanus,
von Sulla, Gracchus, Sertorius und vielen anderen unvergeßliche Porträts
gezeichnet hat: mit alledem hat Mommsen das tote Material, dem sich jeder
Historiker gegenübersieht, zu anschaulichstem Leben erweckt und aus
Staub und Asche die alte Welt in allen ihren Farben wiedererstehen lassen;
Durchweg zieht er, in der Kennzeichnung einer Person oder eines Sachverhalts,
die scharf modellierende, womöglich schneidende Formulierung der episch
beschreibenden Schilderung vor, und mitunter hat der Leser Anlaß
zu der Frage, was eigentlich dem Autor den Abstand gewähre, dessen
jede historische Darstellung bedarf: das wissenschaftliche Ethos oder der
schriftstellerische Instinkt, so wenn er beispielsweise noch dem verächtlichsten
Charakter, der verlorensten Sache einige ausgleichende Lichtpunkte aufsetzt,
ein Verfahren, das die ästhetische Regel ebenso wie die historische
Abgewogenheit des Urteils für sich hat.
So sagt er von Cato, über dessen Unbeugsamkeit und Prinzipienstarre
er Seite um Seite mit der Verständnislosigkeit eines Mannes urteilt,
der sichtlich nicht wahrhaben will, daß auch der Widerstand gegen
die eigene Zeit sein Recht und seine Würde haben kann, in einer resümierenden
Schlußbetrachtung: „Die Republik war tot und niemals wieder ins Leben
zu erwecken; was sollten die Republikaner noch auf der Erde? Der Schatz
war geraubt, die Schildwache damit abgelöst; wer konnte sie schelten,
wenn sie heimging? Es ist mehr Adel und vor allem mehr Verstand in Catos
Tode, als in seinem Leben gewesen war. Cato war nichts weniger als ein
großer Mann; aber bei aller jener Kurzsichtigkeit... und jenen falschen
Phrasen, die ihn, für seine wie für alle Zeit, zum Ideal des
gedankenlosen Republikanertunis und zum Liebling aller damit spielenden
Individuen gestempelt haben, war er dennoch der Einzige, der das große
dem Untergang verfallene System in dessen Agonie ehrlich und mutig vertrat...
Weil alle Hoheit und Herrlichkeit der Menschennatur schließlich nicht
auf der Klugheit beruht, sondern auf der Ehrlichkeit, darum hat Cato eine
größere geschichtliche Rolle gespielt als viele an Geist ihm
weit überlegene Männer."
Mommsens Gegenwartseifer
Im ganzen machen solche Textstellen, und ungezählte andere dazu,
etwas von dem heißen Atem spürbar, mit dem Mommsen die Vergangenheit
erfüllt hat, und nie jedenfalls ist einem Werk großer Historiographie
auf eindrucksvollere Weise die Widerlegung des Satzes gelungen, daß
Geschichte „sine ira et studio" darzustellen sei: sie sei, wie Mommsen
erklärt hat, so wenig ohne Haß und Liebe zu schreiben, wie sie
ohne Haß und Liebe gemacht werde. Die Vergangenheit war, wie er es
sah, vom gleichen Stoff wie die Gegenwart, nur Kostüm und Kulisse
hatten gewechselt, eine Art Katalaunisches Feld, auf dem die gleichen Widersacher
ohne Ende aufeinandertrafen, er selber mitten unter ihnen, streitend, leidend,
parteinehmend und mitunter sogar den Eindruck erweckend, er wolle, was
als historisches Faktum doch unabänderlich war, zuletzt noch wenden.
Die Fiktion einer unbestechlich über die Geschichte richtenden Moral,
aus deren Geist die Aufklärer schrieben, hat er ebenso preisgegeben
wie den Anspruch der „Objektivität" und auf diese Weise, was er an
Besonnenheit opferte, an Intensität vielfach zurückgewonnen.
Diese Tendenz zur äußersten Vergegenwärtigung der Geschichte
kommt auf der begrifflichen ebenso wie auf der politischen Ebene zum Vorschein.
Der Consul wird zum „Bürgermeister", der Proconsul zum „Landvogt";
es gibt „Generale", „Admirale" und „Schwadronen"; Mommsen spricht von „Ingenieuren",
„Kapitalisten", „Fabrikarbeitern", von „Primadonnen" und „Kurtisanen".
Daß diese Übersetzung ins Gegenwärtige aber nicht allein
von der Absicht bestimmt war, „die Alten lebendig zu machen, sie von dem
phantastischen Kothurn, auf dem sie der Masse des Publikums erscheinen,
in die reale Welt ... zu versetzen", wird überall dort deutlich, wo
Mommsen politische, mit einem bestimmten Affektgehalt besetzte Begriffe
ins Altertum überträgt. Die Popolaren werden zu „Anhängern
der Volks- oder Fortschrittspartei", die Aristokraten zu „Junkern", die
Linken heißen „bornierte Radikale", die Rechten „Ultras"; er spricht
von dem „notorisch feilen Senatorengesindel", von der „demokratischen Servilität,
die zu allen Zeiten mit der höfischen gewetteifert" habe, oder vom
„Proletariat" mit „seinen bald pinselhaften, bald bübischen Ansprüchen
und seiner Fratze der Volkssouverainität".
Mommsens „Gegenwartseifer" war so beherrschend, daß man nicht
ganz ohne Grund behaupten konnte, das Werk sei ihm weniger wichtig gewesen
als das Wirken. Durchschlagend bleiben der Zorn und die Enttäuschungen
eines Liberalen der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts, der sich um seine
Hoffnungen auf einen freiheitlichen, nach innen gerechten, nach außen
starken Einheitsstaat betrogen sah: „Da er seine Nöte im Altertum
wiederfand", hat Friedrich Gundolf bemerkt, „so weilte er dort nicht nur
wie ein Humare Ferne geflüchtet unter erhabene Trümmer, sondern
als Hausherr. Keinem war je das römische Altertum so sehr vertrauter
Umgang - den Schauer der Vorzeit, die Andacht zum Altertum als einem Altertum,
die den Humanisten innewohnte, kannte Mommsen nicht mehr - ja er hat sie
zerstört und ersetzt durch die abstandslose Gegenwart."
Merkwürdig zu denken, daß dieser politische Kopf mit seinem
leidenschaftlichen Drang, die Kämpfe von einst noch einmal auszutragen,
aus der Richtung Niebuhrs kam und Inschriftensammlung, Dialektforschung
sowie strengste Quellenkritik zum Zwecke der Entmythologisierung des Altertums
betrieb. Von noch größerem Gewicht aber war vermutlich, daß
er auch mit dessen von der Überlieferung legitimierten Perspektiven
brach. Schon die Römer hatten ihre Geschichte im Sinne eines ebenso
einfachen wie naheliegenden „Dekadenzschemas" interpretiert:
den Beginn machten jene frühen, aus unverdorbenem Dämmer
emportauchenden Zeiten, in denen moralische Stärke und politische
Kraft das Wohl des Gemeinwesens ebenso wie dessen machtvolle Entfaltung
befördert hatten, ehe nach einem kurzen und glanzvollrn Höhepunkt
das eine wie das andere, sich wechselweise untergrabend, in Ermattung,
Verfall und ein lang anhaltendes, von inneren und äußeren Desastern
vorangetriebenes Sterben überging. Mommsen kehrte dieses Schema zwar
nicht einfach um; kein Hegelianer, aber doch in der Luft Hegels aufgewachsen,
versuchte er vielmehr aufzuzeigen, daß jede Epoche der römischen
Geschichte mit einer nahezu gesetzlichen Zwangsläufigkeit aus den
Triebkräften der voraufgegangenen Phase hervorgehe: dem unter wechselnden
Vorzeichen immer wiederkehrenden, durch Eroberungen zeitweilig beschwichtigten
Konflikt zwischen Patriziern und Plebejern oder, wie es sehr modern schon
heißt, zwischen Kapital und Arbeit, der in zunehmend krisenhafteren
Zuspitzungen ein unübersehbares Sklavenproletariat schuf, den Mittelstand
ruinierte und das römische Gemeinwesen schließlich an den Rand
des Abgrunds drängte. Aber indem er seine Darstellung mit Cäsar
enden, ja seine gesamte Konzeption auf ihn zulaufen ließ, kam es
doch auf eine Art Umkehrung hinaus, und jedenfalls ist durch alle Wirren,
Kämpfe und Intrigen, alle Bedrängnisse und Auflösungserscheinungen,
die das Rom der untergehenden Republik ausmachen, ein apotheotischer Ton
unüberhörbar.
Bezwungen von Caesars Größe
Denn Cäsar ist der Held dieser Geschichte, der menschlich wie
politisch gleichermaßen grandiose Zielpunkt einer Weltkultur: ein
männlicher Charakter, stolz, leidenschaftlich und großmütig;
als Politiker ein Realist, dem „alle Ideologie und alles Phantastische
... fern lag", und als Staatsmann sowohl mit der Einsicht wie mit der Fähigkeit
ausgestattet, „den ausgefällten Spruch der geschichtlichen Entwicklung"
zu vollziehen. Alle Gegensätze der Zeit wie der menschlichen Natur
waren in ihm vereint und aufgehoben:
römische Energie und griechische Bildung, Wille zur Herrschaft
und Gewähr der Freiheit, Sachverstand und Phantasie, Entschlossenheit
und Milde und mit alledem „regierte er die Gemüter der Menschen wie
der Wind die Wolken zwingt".
Gewiß hat Mommsen auch sein Cäsarporträt mit einigen
Schattenpunkten versehen, doch plagten ihn die pathetischen Zweifel nicht,
die schon bei Cicero greifbar sind und die von Petrarca bis Voltaire und
Edgar Quinet noch jeder empfunden hatte, der Cäsars überragende
Gaben mit dem Gebrauch zusammenzureimen versuchte, den er vor allem mit
dem Entschluß zum Bürgerkrieg davon machte. Die tieferen Schatten
holte Mommsen sich vielmehr aus der krisenhaft verdüsterten Szenerie
sowie vor allem von Cäsars Gegenspielern: von Pompejus oder dem jungen
Cato etwa, vor allem aber von Cicero, gegen dessen jahrhundertelang nahezu
unangefochtene Autorität er seine ganze literarische Verführungskunst
sowie sein advokatorisches Ingenium in so glanzvoller Weise aufgeboten
hat, daß selbst das bessere Wissen nicht selten davon geblendet und
überwältigt wird.
Die historische Stichhaltigkeit dieses Cäsarbildes ist häufig
bestritten worden, doch tut man gut daran, die dahinter wirksame Geschichtsvorstellung
selber als ein Stück Geschichte zu betrachten. Wieviel Überwältigung
durch das Einzigartige, wieviel staunende Lust an der Erscheinung in dieses
Porträt auch eingegangen sein mag - kein Zweifel kann sein, daß
eine elementare politische Sehnsucht daran mitgewirkt hat. Verschiedentlich
ist die Auffassung vertreten worden, Mommsens Cäsar sei ohne die Erscheinung
Napoleons, der die Welt erst kurz zuvor gelehrt hatte, was ein einzelner
über den Geschichtsverlauf vermag, nicht zu denken, und einiges spricht
dafür, daß er sich von einem Mann wie jenem die Zauberformel
für die hoffnungslos blockierten deutschen Verhältnisse versprach.
Die Erfahrung des Jahres 1848 hatte ihn jedenfalls gelehrt, daß die
Nation sich die Einheit nicht selber geben, sondern nur durch einen rücksichtslosen
Willen zusammengezwungen werden konnte. Dabei hat er das Ziel selber nie
in Frage gestellt und in der staatlichen Einheit nicht nur die überlegene
politische Organisationsform gesehen, sondern auch eine höhere Stufe
der Entwicklung: Erst die Veranlagung zum Staat bewies die Kulturbegabung
einer Nation und war ihre Rechtfertigung vor der Geschichte. Wie hoch er
dieses Ziel bewertete, wird an den Härten deutlich, die er dafür
in Kauf zu nehmen bereit war. In dem mit bewegter Sympathie entworfenen
Portrat Sullas hat er dessen Einigungswerk mit dem Bemerken kommentiert,
es sei „mit endloser Not und Strömen von Blut dennoch nicht zu teuer
erkauft" gewesen.
Desgleichen geht Mommsens fast beziehungslose Fremdheit gegenüber
der Welt der griechischen Stadtstaaten, sein Hohn über ihren störrisch
würdelosen Egoismus im Umgang mit der Weltmacht Rom, nicht zuletzt
auf deren Unvermögen zurück, über die engsten Verhältnisse
hinauszudenken und einen ins Große zielenden politischen Willen sei
es selber zu entwickeln, sei es von außen hinzunehmen. Das „Treiben",
vermerkt er mit deutlicher Geringschätzung, „hätte Anspruch wo
nicht auf Billigung doch auf Nachsicht, wenn die Führer (der Achäer)
zum Kampf entschlossen gewesen wären und der Knechtschaft der Nation
den Untergang vorgezogen hätten; aber weder (die einen noch die anderen)
dachten an einen solchen politischen Selbstmord - man wollte wo möglich
frei sein, aber denn doch vor allem leben". Aus der gleichen Vorstellungswelt
stammt die Äußerung des Politikers Mommsen: „Wenn der nationale
Staat jede Wunde heilen kann, darf er auch jede schlagen."
Vor diesem Hintergrund hat man den häufig bemängelten moralischen
Relativismus dieses Cäsarbildes zu sehen. Bezwungen von der menschlichen
und historischen Größe seines Helden, hat Mommsen fast alle
seine liberalen und demokratischen Überzeugungen 1
geopfert und gleichsam Vollmachten ausgestellt, die, gerade wegen der
offenkundig politischen Intention seines Werkes, auch der erschlichenen,
trügerischen oder verhunzten Größe beim Publikum zugute
kamen. Denn an der Machtfülle, über die Cäsar vom Jahre
45 an gebot, fiel für Mommsen weniger der Verlust der Freiheit als
der Gewinn ins Gewicht, den der zu eng und handlungsunfähig gewordene
römische Nationalstaat im Übergang zum Weltstaat davontrug. Cäsar
vollstreckte nur, was der „heilige Geist der Geschichte" verlangte, wie
Mommsen verschiedentlich mit einer wiederum fast hegelianischen Ergriffenheit
formuliert hat.
Man hat damit schon einige der Gründe für die viel erörterte
Streitfrage zur Hand, warum Mommsen die „Römische Geschichte" nicht
weiterschrieb, sogar den 3. Band nicht mit der Ermordung Cäsars enden
ließ, sondern mit dessen Sieg bei Thapsus, der ihm die Alleinherrschaft
sicherte: Die Feier des großen Mannes konnte durch die Umstände
seines Endes, die Motive der Verschwörer, nur Schaden nehmen, und
mit ganz ungewohntem, fast ergreifendem Sentiment hat Mommsen später
bekannt, er habe Cäsar nicht sterben lassen können. Hier soll
nicht die ewige Kontroverse aufs neue ausgebreitet, vielmehr auf den schroffen
psychologischen Widerspruch hingewiesen werden, in den Mommsen damit zu
sich selber trat. „Ich habe ... mein Bestes und mein Eigenstes in dieses
Buch gelegt", hat er bei Gelegenheit bemerkt. All das ließ er fallen
und kam auch nie mehr darauf zurück. Denn der sogenannte 5. Band über
die Provinzen des Römischen Reiches, den er rund dreißig Jahre
später gleichsam nachschob, führte das Werk nicht eigentlich
fort, sondern fügte ihm lediglich einige buchstäbliche Randkapitel
hinzu. „Der Historiker", hatte er einmal geschrieben, „soll uns nicht Vorarbeiten,
Excerpte geben, sondern seine Ansicht über den Gegenstand"; jetzt
zog er sich selbst in die Beschäftigung mit den Vorarbeiten und Excerpten
zurück.
Mommsen hat seinen Abschied von der Geschichtsschreibung später
mit dem Verlust der „heiligen Hallucination der Jugend" begründet
sowie mit der abhanden gekommenen Bereitschaft zu „subjektiver Willkür"
und mit alledem den Widerspruch nur noch krasser herausgestellt. Es ist
der Widerspruch eines Menschen, der nicht nur über zwei gleich starke
Begabungen verfügte, sondern dessen Leben auch die Bruchstelle zweier
wissenschaftsgeschichtlicher Perioden überspannte.
Für die ältere, bis auf die Antike zurückgehende Methode
war die Absicht bestimmend gewesen, das gesamte historische Wissen in großen,
einsichtvermittelnden Zusammenhängen darzustellen, ihr Anspruch zielte
auf die Verbindung von Faktum, Deutung und hoher literarischer Form. Durch
die kritische Geschichtsauffassung, wie sie mit Niebuhr, Boeckh und Droysen
einsetzte, geriet von den dreien das Faktum zunehmend in Verdacht, und
mit dem Gefühl, daß „wir alle mehr oder weniger nur auf gut
Glück hin unser Netz in dieses Meer werfen", wurde zugleich das Bedürfnis
wach, der historischen Wissenschaft jene gesicherten Grundlagen zu verschaffen,
durch die sie sich erst als Wissenschaft auswies. Bezeichnenderweise begannen
in Italien, Prankreich und Deutschland etwa zur gleichen Zeit jene ehrgeizigen
Unternehmungen, das auf die Gegenwart gekommene, in alle Winde verstreute
und vom Verlust bedrohte historische Material zu sichern und systematisch
zu erfassen. Ein vehementer, als Zeittendenz zu fassender "Trieb zur Empirie"
(A. Heuß) kam darin zum Ausdruck, in dessen Zeichen auch Mommsens
wissenschaftliche Anfänge gestanden hatten. Schon seine ersten drei
Veröffentlichungen, noch während des Studiums verfaßt,
stützten sich überwiegend auf epigraphisches Material, und wenig
später, während seines ersten Italienaufenthalts, entschloß
er sich, die in Neapel lagernden alten Inschriften zu sichten und zu katalogisieren.
Es war nur der weitere folgerichtige Schritt auf dem gleichen Wege, daß
er schon damals den Vorsatz faßte, alle auf Stein, Metall oder anderem
Material erhaltenen lateinischen Inschriften methodisch zu sammeln und
in einem umfassenden Werk nach dem Urtext zu veröffentlichen : eine
Aufgabe, die ihm erst nach zehn Jahren zermürbender Auseinandersetzungen
und Professorenintrigen übertragen wurde, deren Bewältigung indes
seinen eigentlichen wissenschaftlichen Ruhm begründet hat. Die Behauptung
ist sicherlich nicht übertrieben, daß wir von jenem Rom, über
das die antiken Historiker kaum berichten: dem privaten Dasein der Menschen,
ihren alltäglichen Beschäftigungen, ihren Vergnügungen und
Vereinigungen, ihrem Recht, ihren Sitten, Geschäften und ümgangsformen
bis hin zu ihren Jenseitserwartungen, nur wenig wüßten ohne
Mommsens aus allen Gegenden des einstigen Imperium Romanum, von Trümmerstätten
und Grabsteinen kopierten, aus alten Bibliotheken und Museumsdepots zusammengetragenen
Corpus lateinischer Inschriften.
Die großen Quellenwerke
Bedeutung und fast legendärer Rang dieses Werkes sowie der zahlreichen
anderen, von Mommsen angeregten Quellensammlungen haben darüber hinaus
aber auch entscheidend dazu beigetragen, der Wissenschaftsentwicklung eine
neue Richtung zu geben. Hatten Erforschung und Ordnung des Quellenstoffes
bis dahin ihre Rechtfertigung nur aus ihrer fundamentierenden Funktion
für die historische Darstellung bezogen, so wurden sie jetzt gleichsam
selber fundamental. In den Vordergrund rückte ein sich selbst genügendes
antiquarisches Interesse, das kein übergeordnetes Ziel mehr kannte
und dessen Gegenstände beliebig waren oder doch unabhängig von
jedem Erkenntniszusammenhang. Die ungezählten, mit beispiellosem Aufwand
verfertigten Akteneditionen, Regestensammlungen und Urkundenbücher
aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, die sogenannten Monumenta,
stehen trotz dieser Bezeichnung nur für sich selbst: beziehungslos
auf dem Terrain der Wissenschaft errichtete, nicht ohne Willkür aufgetürmte
Komplexe, deren oft imponierender Anblick den Verlust nicht vergessen machen
kann, mit dem sie erkauft wurden. Denn nicht das nackte Faktum allein,
das in den „Real-Encyclopädien" gespeicherte Wissen, sondern auch
und erst der Zusammenhang macht die Geschichte.
Mommsen selber war, trotz allem, sich der Überlegenheit des Zusammenfassenden
gegen die Einzeluntersuchung immer bewußt: „Ein zugleich geniales
und methodisches Werk wird tausend male mehr nützen", schrieb er in
einem Brief, „als alles Erbsenwerfen und Schwärmer abbrennen".
Zu sagen ist aber auch, daß dieser Gang der Dinge von der Entwicklung
vorgezeichnet, der Ansatz notwendig und die übertreibende Tendenz
unvermeidlich war. Man kann in der Idee, daß die Quellen, auch die
Institutionen, überhaupt das Fixierbare die Historie selber seien,
während der Geschichtsschreibung nur die mehr oder minder dilettierend
betriebene Aufgabe zufällt, das Erforschte gefällig zu verbinden
und in Lektüre zu verwandeln, eine Spielart des Prozesses sehen, der
auf anderem Felde zum Gegensatz von reiner und angewandter Wissenschaft
geführt hat; und der gebieterische Anspruch, den jene Urkundskompilatoren
und Spezialforscher erhoben, die aaf zusehends enger gezogenen Parzellen
ständig tiefer gruben, rührte nicht zuletzt aus der vermeintlichen
Gewißheit her, dem reineren, selbstloseren Prinzip entsagungsvoll
zu dienen.
Es ist nicht ohne Ironie, daß die Altertumswissenschaft (und
bald die Geschichte im ganzen) gerade von jenem Mann in Stücke gesprengt
worden ist, der sie mit universaler Konsequenz aus ihrer Blickverengung
erst vollständig befreit und, über alle politische Betrachtung
weit hinaus, zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte geöffnet
hat; und daß der gleiche Mann auch die Trennung von „Forschung" und
„Vermittlung" entscheidend vorangetrieben hat, der diese mit jener wie
kein anderer verbunden und in der „Römischen Geschichte" für
mehrere Generationen eine Art „Hausbuch des gebildeten Bürgertums"
verfaßt hat. Daran ändert wenig, daß Mommsen selber diese
Entwicklung nicht wahrhaben wollte und den Zusammenhang, den eigentlich
nur er noch darstellte auch der Sache zuerkannte, die längst zu Bruch
gegangen war. In nahezu regelmäßigen Abständen hat er daher
auch die Einzelforschung zugunsten großer, zusammenfassender Werke
verlassen und die Ergebnisse der Detailarbeit in ausgreifenden Überblicken
dargestellt. Seine Bemerkung, daß an der Geschichte nur das Handwerk
erlernbar, alles übrige Genie sei, gilt offenbär auch für
jenes Wissenschaftsprinzip, das nur Handwerk zu sein scheint, dem er selber
aber noch im entlegensten Teilstück, dem er sich widmete, die Ahnung
eines umfassenden Welt- und Lebenszusammenhangs zu vermitteln wußte.
Insofern ist auch unbegründet, was im Befremden darüber zum
Ausdruck kommt, daß Mommsen viele Jahre seines Lebens an eine Aufgabe
verschenkt habe, die jeder umsichtige Organisator ebenso hätte wahrnehmen
können: In seiner Person war, was schon zerfiel, noch einmal groß
und fast beschwörend verbunden. Zwar hat er ursprünglich nicht
daran gedacht, aus der Sammel und Forschungstätigkeit eine Lebensaufgabe
zu machen, und für den „Corpus Inscriptionum Latinarum" zunächst
nur einen Zeitraum von vier bis sechs Jahren veranschlagt. Aber mit dem
Eintritt in die Preußische Akademie der Wissenschaften (1858) und
der Übernahme des Ständigen Sekretariats verfügte er über
einen Apparat, den er, der Zeittendenz zum Großbetrieb folgend zu
einer gewaltigen, zuletzt auch international vielfach verflochtenen, Organisation
mit einem Riesenheer von Gelehrten ausbaute. Von Berlin aus, so hat man,
den zentralen Einfluß Mommsens treffend charakterisierend, gesagt,
sei die Altertumswissenschaft wie die Armee vom preußischen Generalstab
dirigiert worden: Er vergab die Aufträge, lenkte die Forschungsrichtung
und sprach, nicht immer glücklich, doch mit ungeduldiger .Herrscherlaune
operierend, bei der Besetzung der Lehrstühle mit, auf die er verdiente
Epigraphiker hievte. Sicherlich hat er daher auch, allen Zweifeln zum Trotz,
nie ernsthaft erwogen. Macht, Möglichkeiten und Prestige, die das
Institut ihm und seinem zivilcäsarischen Temperament eintrugen, je
aufzugeben. Dennoch hat Mommsen unter der Tätigkeit des Sammeins und
Organisierens gelitten, die Belege dafür sind unübersehbar. Es
mag noch scherzhaft gemeint sein, wenn er sich einmal als „Commis Voyageur
der Kirchhofswissenschaft" bezeichnet; aber an anderer Stelle heißt
es, seine Aufgabe bestehe oft nur darin, „den Schund des Schunds durchzuwühlen".
Was ihn dennoch, über alle Anwandlungen der Unlust hinweg, bei
der Sache hielt, waren neben der Überzeugung von Sinn und Notwendigkeit
der Aufgabe vor allem seine asketische Willenskraft und sein Pflichtbewußtsein.
Dergleichen klingt inzwischen eher pompös und hat den Beigeschmack
der dekorativen Phrase. Gleichwohl hat es, was damit gemeint ist, in der
großen Zeit des Bürgertums doch gegeben, und nicht zufällig
stellte Mommsen in Wesen, habituellem Zuschnitt und Lebensform den Typus
des Bürgers oder, zugespitzter noch, des bürgerlichen Professors
in reiner, fast schon überzeichnet wirkender Weise dar. Richard Wagner
meinte denn auch nach einem Zusammentreffen, die leicht karikatureske Aura
der Erscheinung mokant erfassend, der Gelehrte sehe aus wie jemand, der
in dieser Maske zum Redoutenball unterwegs sei. Was ihn auszeichnete und
doch für viele galt, war eine Mischung aus nüchternen und emphatischzergrübelten,
aus strengen und ätherischen Zügen, alles rückstandslos
aufgehend in dem, was Igetan werden mußte. „Wahrhaftig", schrieb
er einmal, „die Pflicht ist eine große Gottheit; ich führe ein
Leben, schlimmer als ein Tagelöhner." Aber sein Ruhm war einzigartig,
Erfolge und Ehrungen häuften sich, und seine Autorität gewann
fast mythischen Rang.
Dennoch war er, vor allem in diesen späten Jahren, zusehends von
depressiven Stimmungen erfüllt, und man hat dafur, auf der Suche nach
den Motiven, vor allem die politische Entwicklung des Landes seit der Reichsgründung
verantwortlich gemacht. In der Tat häufen sich seit den siebziger
Jahren Mommsens Klagen über die „Erbärmlichkeit der Zustände",
„die Nichtswürdigkeit unseres Regiments und die Fäulnis der Nation".
Gewiß fanden darin die Enttäuschungen eines Mannes Ausdruck,
dessen eigentümliches Naturell es war, zeitlebens von den heftigsten
politischen Empfindungen erfüllt und dennoch ohne eigentliche politische
Begabung zu sein; er selber hat denn auch, obwohl zeitweilig Abgeordneter,
seine Eignung zum Par lamentarier in Zweifel gezogen. Eine Rolle spielte
dabei sicherlich, daß die Beschäftigung mit der Geschichte einen
Hang zum moralischen Werturteil, zu strengen Grundsätzen und hohen
Idealbildern in ihm geweckt oder doch verstärkt hatte, vor dem die
politische Wirklichkeit mit ihren Kompromissen und durchweg nur halbhohen
Zielen sich eher deplorabel ausnehmen mußte: Ein gut Teil seines
abgrundtiefen Hasses gegen Bismarck war zweifellos von solchen literarisch-wissenschaftlich
überzogenen Vorstellungen eingegeben. Als Mommsen im Mai 1863 von
Napoleon III. zur Audienz empfangen wurde, notierte er: „Ich gestehe, ich
bin mit einem Gefühl von Neid weggegangen, daß das Schicksal
uns nicht einmal einen solchen grand criminel zuwirft: was könnte
der machen ..."
Tatsächlich war er, als das Schicksal so etwas wie ein Einsehen
zeigte, als radikaler Anhänger der Einheitsstaatsidee zunächst
auch überglücklich: „Es ist ein wunderbares Gefühl", schrieb
er nach dem Sieg von 1866 an seinen Bruder Tycho, „dabei zu sein, wenn
die Weltgeschichte um die Ecke biegt. Daß Deutschland eine Zukunft
hat und daß diese Zukunft von Preußen bestimmt wird, das ist
nicht mehr eine Hoffnung, sondern eine Tatsache, und eine gewaltige für
alle Zeiten." Aber in diesen Gefühlserhebungen war mehr Studierstuben-Exaltation,
mehr politischer Romantizismus, als die Realität je einlösen
konnte. „Preußens Geschichte", schreibt er schon bald nach Königgrätz,
„scheint einen Verfasser zu besitzen, der für einzelne geniale Kapitel
sich durch Bände von Schund entschädigt", und einige Jahre später
versichert er in einem Gespräch: „Ja, dieser Bismarck hat uns hassen
gelehrt, wie wir nie geglaubt hatten, einen fremden Menschen hassen zu
müssen. "Einmal steigerte er sich so sehr in Groll und Abscheu hinein,
daß er, wie berichtet wird, nahezu „das Äußere eines Epileptikers
zeigte". Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Dauergereiztheit
in einem Brief Mommsens an seine Frau vom Mai 1885, der in Tonlage und
Wortwahl schon das berühmte Testament von 1899 vorwegnimmt: „Das sage
ich Dir jetzt, und Du wirst mir gehorchen, auch wenn ich nicht mehr bin:
Auf meinem Grab soll weder ein Bild noch ein Wort, nicht einmal mein Name
stehen, denn ich will von dieser Nation ohne Rückgrat persönlich
so bald wie möglich vergessen sein und betrachte es nicht als eine
Ehre, in ihrem Gedächtnis zu bleiben."
Das umstrittene Testament
Doch spricht einiges dafür, daß man Mommsens Depressivität
nicht ausschließlich und möglicherweise nicht einmal überwiegend
als politisch motiviert deuten darf. Die politischen Zustände waren,
bei einem politisch so reizbaren Temperament, nur der zunächst liegende
Aggressionspunkt und Mommsens Schroffheiten außerdem in den Augen
seiner Gesprächspartner sicherlich spektakulärer, auch überlieferungstauglicher,
als die privaten, auf Familie, Freunde, Tätigkeit sowie die eigenen
Lebensumstände zielenden Verdikte. Daß er sie äußerte,
ist nicht zweifelhaft, doch hat die nächste Umgebung die Diskretionsbedürfnisse
eines im Persönlichen so scheuen Menschen wie Mommsen pietätvoll
respektiert. Immerhin finden sich in den Briefen seiner Frau sowie in den
Aufzeichnungen seines Schwiegersohnes, Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff,
unmiß-verständliche Hinweise darauf, und Wilamowitz hat auch
berichtet, wie Mommsen, nach einem Ohnmachtsanfall während eines Rektoratsdiners,
auf dem gemeinsamen Heimweg, wie zu sich selber sprechend, in verzweifeltes,
offenbar weit über alle politischen Anlässe hinausgehendes Reden
verfiel. Aber „nie und zu niemandem", vermerkte er, „ist auch nur eine
Andeutung von dem über meine Lippen gekommen, was ich wider seinen
Willen, sein Bewußtsein gehört hatte, nie werde ich ein Wort
verraten".
Man muß infolgedessen wohl tiefer ansetzen, als es meist geschieht,
um den Verdüsterungen Mommsens einigen Grund abzugewinnen. Zweifellos
war eine Veranlagung dazu vorhanden, die schon im Vater hervortrat und,
weit stärker und ins Krankhafte übergehend, in Mommsens Bruder
wiederkehrte. Aber bestimmender für diese schweren, einbruchartigen
Gemütsbedrückungen war offenbar doch das Bewußtsein der
verfehlten Biographie. Mommsens Anfänge hatten ganz im Zeichen romantischer
Hochgestimmtheiten gestanden, die von den Freundschaftsbünden, wie
er sie auf nahezu jeder Lebensstation schloß, den Empfindungen von
Aufbruch und gleichgesinnter Idealität, inspiriert und getragen wurden.
In einigen frühen Briefen hat er das Ansinnen zurückgewiesen,
„Karriere" zu machen, seine Vorstellung ging auf anderes, auf etwas Ungebundenes,
Großes, er wußte vermutlich selbst nicht was. Aber daß
das Leben nicht gemacht war, auf einem Professorenstuhl zu enden, schien
ihm gewiß. Es ist dieser Zug ins leidenschaftlich Unbestimmte, Wirklichkeitsferne,
der den Typus des romantischen Jünglings im ganzen kennzeichnet, und
Mommsen nimmt sich in dieser Umgebung wie eine etwas streng geratene, in
seinem Sanguinismus, seinem Pathos aber durchaus legitime Variante davon
aus. Gewisse grundierende Elemente aus diesen Jahren hat er sich bis zuletzt
bewahrt, angefangen von der unromantischen Neigung, die lang vergangene
Zeit gegen die eigene auszuspielen, bis hin zu dem Bedürfnis, sich
gedichtweise zu äußern, dem er noch im hohen Alter mit amateurischer
Hingabe genügte.
Ebensowenig ging ihm auch die Idee vom großen und, wie es in
einem Romantikervers heißt, „zur Ewigkeit erhöhten" Leben je
verloren. So unbestimmt und irreal sie gewesen war, so vage blieb auch
das Gefühl, etwas preisgegeben zu haben, was mehr bedeutete als aller
Erfolg und weltweiter Ruf. Einmal zwar hatte er sein „Bestes und Eigenstes"
gegeben, doch auch dies war unabgeschlossen geblieben, ein grandioses Bruchstück,
dann hatten ihn die Entwicklung der Wissenschaft, das Verlangen nach Einfluß,
sein Hang zum Gemeinnützigen, aber auch Hausstandssorgen und Tagessachen
von seinen Anfängen entfernt: es war der gewöhnliche Weg, der
alle Romantik zuletzt in irgendein Biedermeier führt, auch wenn es
wie hier eher strenge und pflichtschuldige Züge trägt. Zurückgeblieben
jedenfalls war das Gefühl, zu viel vertan, versäumt und nicht
sich selbst gelebt zu haben.
Unnötig zu sagen, daß man sich mit alledem auf spekulativem
Grund bewegt. Aber nicht zuletzt Mommsens Testament, das bei seinem Bekanntwerden
nach dem zweiten Weltkrieg so viel Aufsehen erregt hat, stützt diese
Deutung. Zwar hat die Kontroverse, die es entfachte, ihr Augenmerk so gut
wie ausschließlich den politischen Passagen des Dokuments geschenkt,
doch hat man darin eher einen Ausdruck des verbreiteten Bedürfnisses
jener Jahre zu sehen, Kronzeugen und Kassandren des nationalen Irrwegs
aufindig zu machen. Diese Sätze lauten:
„Politische Stellung und politischen Einfluß habe ich nie gehabt
und nie erstrebt; aber in meinem innersten Wesen, und ich meine, mit dem
Besten was in mir ist, bin ich stets ein animal politicum gewesen und wünschte,
ein Bürger zu sein. Das ist nicht möglich in unserer Nation,
bei der der Einzelne, auch der Beste, über den Dienst im Gliede und
den politischen Fetischismus nicht hinauskommt. Diese innere Entzweiung
mit dem Volke, dem ich angehöre, hat mich durchaus bestimmt, mit meiner
Persönlichkeit, soweit mir dies irgend möglich war, nicht vor
das deutsche Publikum zu treten, vor dem mir die Achtung fehlt. Ich wünsche,
daß auch nach meinem Tode dasselbe mit meiner Individualität
sich nichts zu schaffen mache. Meine Bücher mag man lesen, solange
sie eben dauern;
was ich gewesen bin, oder hätte sein sollen, geht die Leute nichts
an."
Nicht nur die Wendung „was ich hätte sein sollen" läßt
aufmerken. In der Begründung für sein Verlangen, die biographische
Behandlung seines Lebens nach Möglichkeit zu verhindern, bezeichnete
Mommsen diese politischen Überlegungen ausdrücklich als etwas
Zweites, Hinzukommendes. Das gewichtigere Argument steht im vorangehenden
Absatz:
„Ich habe in meinem Leben trotz meiner äußeren Erfolge nicht
das Rechte erreicht. Äußerliche Zufälligkeiten haben mich
unter die Historiker und die Philologen versetzt, obwohl meine Vorbildung
und auch wohl meine Begabung für beide Disziplinen nicht ausreichte,
und das schmerzliche Gefühl der Unzulänglichkeit meiner Leistungen,
mehr zu scheinen, als zu sein, hat mich durch mein Leben, nie verlassen
und soll in einer Biographie weder verschleiert, noch manifestiert werden."
Es ist gewiß nicht nur Mommsens skrupulöse Bescheidenheit,
von der diese Sätze zeugen. Eher schon hat man es mit einem Nachhall
jener sogenannten „romantischen Disproportion" zu tun, dem unheilbaren
Bruch zwischen Ideal und Wirklichkeit, auf den die depressiven Schübe,
unter denen Mommsen litt, zum Teil zumindest, zurückzuführen
sind. Am Ende tritt darin aber auch jener Riß hervor, der durch das
Jahrhundert im ganzen geht und an dem er teilhatte wie kaum ein anderer.
Vielleicht ist es die eigentliche Anstrengung seines Lebens und deshalb
auch sein letzter, über den Tod hinausgehender Wille gewesen, diese
Widersprüche zu verdecken. Versöhnen konnte er sie nicht mehr.
Für die zwei Wege zur Geschichte: den aufs Totalbild zielenden,
die verworrenen Ereignisse in großen Deutungen verklammernden Epochenentwurf
einerseits und die spezialistische, vom Pathos des Details ergriffene Einzeluntersuchung
andererseits, hat Mommsen mit seinem Werk Markierungen gesetzt, wie sie
auf diesem Felde und mit dieser Kompetenz nicht noch einmal auszumachen
sind. Einem treffenden Wort seines Freundes Jacob Bernays zufolge war er
ein „König und Kärrner zugleich".
Auch dies gehört schließlich zum Charakter des 19. Jahrhunderts:
daß einer der Erste sein will und der Letzte auch. Es steht ein zum
durchweg Äußersten drängender Wille dahinter, ein Ehrgeiz
von immer aufs neue imponierender Kraft und Vitalität. Aber etwas
rät uns, nicht allzusehr davon beeindruckt zu sein. Denn es ist ein
Ehrgeiz aus gleichsam babylonischem Geist: maßlos, zum Unfertigen
verurteilt und endend in grenzenloser Sprachverwirrung. Mit den Folgen
haben wir zu tun.